Tagungsbericht: Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager, 21.05.2010 – 25.05.2010 Birkenau

Im Vorfeld der Konferenz hatte es Irritationen gegeben, als Henryk M. Broder unseren Call for Papers in der für ihn typischen Art und Weise kommentierte:

 

“Was hat es mit dem Ereignis des Holocaust auf sich?” fragen ein paar Nachwuchshistoriker aus Deutschland und Polen und laden zu einem “Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager” nach Auschwitz-Birkenau ein, wo sie über “Neue Perspektiven der Konzentrationslagerforschung: Ort, Ereignis und Gedächtnis” labern wollen, bis der Schornstein qualmt. Interessierte werden gebeten, Abstracts ihrer Vorträge bis zum 15.2. einzuschicken. Das ist die “Deadline”.

 

Das akademische Jungvolk, das Dank der Gnade der späten Geburt um die Erfahrung gekommen ist, als SS-Mann oder Frau Dienst an der Rampe schieben zu können, zieht es mit magischer Gewalt an den Ort der Verbrechen ihrer Vorfahren zurück. Und so wie sie sich nichts dabei denken, im Zusammenhang mit Auschwitz von einer Deadline zu reden (Redaktionsschluss wäre nicht romantisch genug), so macht es ihnen nichts aus, von einer “Europäisierung und Internationalisierung des Holocaust” zu phantasieren, die “eine Pluralisierung der Konzepte und Kontexte” begründet. Ja, wer zum Onanieren zu blöd ist, der muss sich eben einen dekonstruieren: “Darüber hinaus sollen die universell aus dem Holocaust abgeleiteten politik- und handlungsleitenden Imperative dekonstruiert und auf ihre Bedeutung für die Wahrnehmung des Holocaust befragt werden.”

 

Jemand aus dem Orgateam reagierte unabgesprochen, was Broder zu einer zweiten Polemik motivierte:

 

gut lesen können sie schlecht, aber schlecht denken können sie prima. ich werde also gnade vor unlust ergehen lassen und sie aufklären, was es so mit dem „ereignis auschwitz“ auf sich hat.

 

dass der satz von dan diner stammt, weiss ich, das macht ihn nicht besser. dass sie sich hinter einem jüdischen historiker verstecken, um den von ihnen fabrizierten unsinn zu veredeln, gehört wohl zu den feinheiten der akademischen event-kultur, die aus den katastrophen von gestern die planstellen von morgen macht.

 

was also hat es mit dem „ereignis“ auf sich? sind die zahngoldpreise in den keller gefallen? produziert boss nach wehrmachtsuniformen jetzt auch KZ-moden? kommt birkenau auf die weltkulturliste der UNESCO?

 

es ist noch schlimmer. auschwitz ist die größte touristenattraktion im raum krakau, ein muss für jeden besucher der region. auschwitz wird wie disneyland beworben und spielt – ähnlich wie das berliner holo-mahnmal – direkt und indirekt millionen ein.

 

grundlage des geschäfts ist der tod von über einer million häftlingen und das bedürfnis der besucher nach einem grusel-erlebnis der extrra-klasse. für die ökonomie der emotionen ist es gleich, ob einer ein gruselkabinett oder die gaskammern besucht, der unterschied liegt nur in der intensität der imaginierten gefühle. die gaskammer ist geiler und authentischer als jeder schlachthof.

 

bei unbedarften besuchern, die schon den westwall in der eifel, verdun und peenemünde besucht haben, lass ich das durchgehen. aber nicht bei akademikern, die ihre nekrophile geilheit mit dem mantel der wissenschaftlichen neugierde verhüllen. die sprache, die sie dabei benutzen, ist nichts als präpotentes geschwätz, ausgeleiert wie ein alter turnschuh.

 

ich glaub ihnen aufs wort, dass unter ihren seminaristen auch die „Nachfahren von Widerstandskämpfern und KZ-Häftlingen“ sind. die sind heute überall, weil es im 3. reich nur widerstandskämpfer und kz-häftlinge gegeben hat. manche sind besoffen vom wachturm gefallen und dabei ums leben gekommen, weswegen deren nachfahren heute unbedingt den ort besuchen müssen, an dem das ereignis stattgefunden hat.

 

ich habe nichts dagegen, dass sich „Nachkommen von Täter/innen mit der NS-Geschichte beschäftigen“, sogar dann, wenn sie dabei das idiotische genderneutrale große I benutzen. dafür müssen sie freilich nicht nach auschwitz reisen, das können sie auch in ihren seminarräumen erledigen. der aufenthalt vor ort bringt keinen erkenntnisgewinn mit sich, er trägt nur zum horror loci bei, der seinerseits sado-masochistische phantasien produziert. die toten seelen der seminaristen füllen sich mit leben, wenn sie den geruch von zyklon b erschnüffeln.

 

schade, dass auschwitz von den alliierten nicht bombardiert wurde. noch bedauerlicher ist es, dass es nach dem krieg nicht dem erdboden gleichgemacht wurde, um zu verhindern, dass nekrophile vulgär-historiker wie sie und ihre seminaristen den ort durch ihre anwesenheit kontaminieren.

viel spass in birkenau


Nun ein Tagungsbericht von Cornelia Siebeck bei HSozKult:

Seit seiner Gründung 1994 bietet der ‚Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager’ ein selbst organisiertes interdisziplinäres Forum von und für Doktorand/-innen, die sich mit Geschichte und Nachgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager beschäftigen. Die jährlich stattfindenden Treffen werden von Teilnehmer/-innen des vergangenen Workshops geplant und realisiert. Bei wechselnden Themenstellungen wird so ermöglicht, aktuelle Forschungsarbeiten in hierarchiefreier Atmosphäre zu diskutieren. Traditionell ist der Workshop dabei an Gedenkstätten im In- oder Ausland angebunden, die gemeinsam besucht und anschließend mit Blick auf inhaltliche Konzeption sowie gedächtnispolitische Implikationen und Kontexte reflektiert werden. Gemäß der transnationalen Dimension nationalsozialistischer Repressions- und Vernichtungspolitik und einer international boomenden Holocaustforschung setzt sich der Workshop dabei zunehmend nicht mehr nur aus Deutschen und Österreicher/-innen zusammen, sondern wird auch von Promovierenden aus anderen europäischen Ländern und Israel als Austauschmöglichkeit genutzt.

 

Der ‚16. Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager’ fand im Mai 2010 unter dem Motto „Ort, Ereignis und Gedächtnis“ in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oświęcim und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau statt. Mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, der Gerda Henkel Stiftung, der Fondation pour la Mémoire de la Shoah und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit kamen an die 40 Teilnehmer/-innen – überwiegend aus Deutschland, Polen und Österreich, aber auch aus Russland, Belarus, Israel und der Schweiz – zusammen. Auf dem Programm standen insgesamt 15 Vorträge, außerdem Besichtigungen der Gedenkstätten Auschwitz/Auschwitz-Birkenau sowie ein Besuch des so genannten „Jüdischen Zentrums“ in Oświęcim, in dem seit 2000 das einstige jüdische Leben vor Ort museal aufbereitet ist.

 

Zum Workshopauftakt hatten die Organisator/-innen die Journalistin und Schriftstellerin KATARZYNA ZIMMERER (Kraków) eingeladen, die sich pointiert zu gedächtniskulturellen Fragen im Allgemeinen und zum polnischen Holocaustdiskurs im Besonderen äußerte. Zimmerer selbst kommt aus einer polnisch-jüdisch-deutschen Familie – eine Tatsache, die sie mit den Worten „Mein Volk ermordete mein Volk, während mein Volk zuschaute“ kommentierte. Zuletzt arbeitete Zimmerer an der Ausstellung „Krakau unter nationalsozialistischer Besatzung 1939-1945“ mit, die seit Juni 2010 in der ehemaligen Krakauer Emaillefabrik des deutschen Unternehmers Oskar Schindler („Schindlers Liste“) gezeigt wird. Eindrücklich beschrieb sie die Neigung der Besucher/-innen, in Schindlers Fabrik jeden Stein als vermeintlich ‚authentisch’ zu sakralisieren. Die Ausstellungsmacher/-innen hätten es vor diesem Hintergrund nicht leicht gehabt: Dem verbreiteten Bedürfnis nach einer ebenso eindeutigen wie emotionalisierenden, medial geprägte Vorstellungen affirmierenden Vergangenheitsrepräsentation stand der Anspruch der Historiker/-innen gegenüber, historisch zu kontextualisieren sowie differenziert und faktenorientiert zu informieren.

 

Diese Problematik kam auch im weiteren Verlauf des Workshops auf die eine oder andere Weise immer wieder zur Sprache. Während in den historiographisch orientierten Vorträgen ‚vergessene Orte’, Faktenreichtum, Komplexität und moralische Ambivalenzen im Vordergrund standen, verwiesen Referate zu Gedächtnis und Repräsentation konsequent auf die Selektivität und Funktionalität der öffentlichen Aneignung (oder Nichtaneignung) von Vergangenheit in einer jeweiligen Gegenwart, die bekanntlich mit vielfältigen Formen der Komplexitätsreduktion und Mystifizierung einhergehen kann.

 

In einem ersten und eher historiographisch orientierten Panel mit dem Titel „Das Lager: Ort des Terrors“ widmeten sich SWETLANA BURMISTR (Berlin), ANGELIKA BENZ (Berlin) und MIRA JOVANOVIĆ-RADKOVIĆ (Zürich) bisher wenig erforschten Themen. Burmistr sprach über den Prozess der Versklavung und Ermordung von Juden und Roma in der Region Transnistrien unter deutsch-rumänischer Besatzung (1941-1944), an der rumänische Akteure maßgeblich beteiligt waren. Benz erläuterte Struktur und Funktion des SS-Ausbildungslagers Trawniki bei Lublin (Generalgouvernement). Dort wurden seit 1941 bis zu 5000 Kriegsgefangene zu Handlangern der SS ausgebildet, um dann unter anderem als Wachmannschaften für die Vernichtungslager der ‚Aktion Reinhardt’ (1942/43) zum Einsatz zu kommen. An beide Vorträge schlossen sich kontroverse Diskussionen über Formen der Kollaboration mit den deutschen Tätern sowie sich daraus ergebende Fragen nach Handlungsspielräumen, ‚Schuld’ und ‚Verantwortung’ an. Von besonderem Interesse waren dabei Benz’ anschauliche Schilderungen des derzeit laufenden Prozesses gegen den ehemaligen Trawniki-Mann John Demjanjuk, den sie in München beobachtet.

 

Wenig bekannt ist auch über die Konzentrationslager auf der kroatischen Insel Pag, die Mira Jovanović-Radković erforscht. Unter dem Schutz der Achsenmächte ermordete das faschistische Ustascharegime 1941 im eigens zu diesem Zweck geschaffenen Lagerkomplex Jadovno innerhalb von vier Monaten etwa 40.000 Menschen, allein in den Lagern auf Pag kamen dabei 8000 Serben/-innen, Juden und Jüdinnen ums Leben. Anfang der 1950er-Jahre wurde einigen Tätern der Prozess gemacht, seitdem gerieten die Lager weitgehend in Vergessenheit. Eine angemessene Dokumentation und Kennzeichnung der Orte blieb aus, die 1975 auf Initiative eines engagierten Amateurhistorikers und Inselbewohners aufgestellte Gedenktafel wurde in den 1990er-Jahren zerstört und seither nicht wieder erneuert. Erst jüngst seien bezüglich der kroatischen Lagervergangenheit neue Gedächtnisinitiativen zu beobachten.

 

KONRAD MANSEER (Wien) sprach in seinem detailreichen Vortrag über die Aufarbeitung der NS-Verbrechen im Konzentrationslager Gusen bei Linz durch die österreichische Nachkriegsjustiz. An Fallbeispielen erläuterte Manseer die dabei herrschende Willkür: So wurde 1947 in Linz ein ehemaliger Funktionshäftling zum Tode verurteilt, während ein besonders brutaler SS-Mann („der einarmige Satan von Gusen“) ein Jahr später mit einer zwanzigjährigen Freiheitsstrafe davonkam.

 

Basierend auf autobiographischen Texten polnischer Frauen, die Auschwitz-Birkenau überlebt haben, arbeitete AGNIESZKA NIKLIBORC (Kraków) die äußerst unterschiedlichen Erfahrungs- und Deutungshorizonte jüdischer und nicht-jüdischer Frauen heraus. In ihrem Vortrag konstatierte sie, dass ‚race’ im Sinne einer fundamental trennenden Kategorie innerhalb der „totalen Institution“ (E. Goffman) Auschwitz-Birkenau zweifellos mehr Gewicht hatte als die gemeinsame Kategorie ‚gender’. Zudem wies sie einmal mehr auf die unterschiedlichen Selbstverständnisse und Erfahrungen ‚rassisch’ und ‚politisch’ verfolgter Menschen hin, die es gerade im polnischen Gedächtnisdiskurs zu betonen gelte.

 

Auch im zweiten Panel, das unter der Überschrift „Ereignis und Erinnerung“ stand, beschäftigte sich die Mehrzahl der Referent/-innen mit Zeugnissen Überlebender. FRANK WIEDEMANN (Hamburg) fragt in seiner Doktorarbeit, ob Psychotherapeuten, Psychiater, Psychologen oder Psychoanalytiker aufgrund ihrer Profession spezielle Strategien entwickeln konnten, die Erfahrung des Lagers zu bewältigen und analysiert deren reflexive Schreibprozesse. MELANIE DEJNEGA (Wien) hat in ihrer Diplomarbeit anhand von Fallstudien untersucht, inwiefern sich eine in der österreichischen Anerkennungs- und Entschädigungspraxis gegenüber Opfern des Nationalsozialismus implizierte „moralische Ökonomie“ auch in autobiographischen Erzählungen Überlebender widerspiegelt. Während ein österreichischer Kommunist und ein in Österreich lebender polnischer Jude die vergleichsweise früh erfolgte Anerkennung als ‚Zeitzeugen’ zum zentralen Thema einer ‚erfolgreichen’ Lebenserzählung machen konnten, blieb einem überlebenden Roma eine solche Anerkennung nicht nur weitgehend verwehrt, sondern er erzählte seine Geschichte auch als die einer fortgesetzten Bedrohung und Diskriminierung.

 

NOAH BENNINGA (Jerusalem) schließlich plädierte in seinem theoretisch bemerkenswert anspruchsvollen Vortrag dafür, die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager radikal anders zu schreiben als bisher. Zentrale Quelle für die Historiographie der Lager müssten die Berichte der Überlebenden mit all ihren signifikanten Stilisierungen, Schwächen und Auslassungen sein. Denn die Realität in den Lagern und ihre vielgestaltigen Alltagspraktiken und Interpretationen seien nur ‚von unten’ rekonstruierbar, die ebenso anekdotischen wie häufig widersprüchlichen Details ein Mittel gegen die strukturelle Logik der Täter, die aus NS-Quellen zu gewinnen sei. Ziel sei dabei nicht die ‚große Erzählung’ der Lager, in die Zeitzeugenberichte bei Gelegenheit eingebaut würden, sondern die Rekonstruktion der Vergangenheit aus Sicht der Betroffenen.

 

Mit medialen Repräsentationen nationalsozialistischer Konzentrationslager beschäftigten sich die Vorträge von KATJA BAUMGÄRTNER (Berlin) und MATHIAS RENZ/SEBASTIAN BODE (Gießen). Baumgärtner wird in ihrer Dissertation die filmische Darstellung des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück seit 1945 mit Blick auf geschlechtsspezifische Erinnerungsnarrative analysieren – ein Projekt, auf dessen Ergebnisse man nicht zuletzt deswegen gespannt sein darf, als dass die zu untersuchenden Filme zu unterschiedlichsten Zeiten und innerhalb verschiedenster politisch-ideologischer Rahmenbedingungen entstanden sind. Renz und Bode erforschen im Rahmen eines DFG-Projekts unter anderem die Visualisierung des Holocaust in europäischen Geschichtsatlanten. Zahlreiche Kartenbeispiele gaben zur angeregten Diskussion über ‚Angemessenheit’ und ‚Unangemessenheit’ jeweiliger Darstellungen Anlass. Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass es hierfür kaum ‚objektive’ Kriterien gibt.

 

Das dritte und letzte Panel stand unter dem Motto „Gedächtnis – Europäisierung, Internationalisierung, Universalisierung“ und reflektierte vorwiegend politisch-ideologische Dimensionen von Gedächtniskultur. ANNA SOMMER (Kraków) beschrieb die Gedenkstätte Auschwitz zu Zeiten der Volksrepublik Polen als ideologisches Instrument der polnischen Regierung, die den antifaschistischen Widerstand und das ‚Märtyrertum’ der polnischen Bevölkerung betonte und dabei den Völkermord an den europäischen Juden weitgehend marginalisierte. PETER HALLAMA (München) analysierte „Metamorphosen der tschechoslowakischen Erinnerungskultur“ am Beispiel des Gedenkens an das ‚Theresienstädter Familienlager’ in Auschwitz-Birkenau als Ort des Massenmordes an tschechoslowakischen Juden. Sehr differenziert ging er dabei auf wechselnde Konjunkturen und deren Zusammenhang mit politischen Großereignissen wie etwa dem ‚Prager Frühling’ ein. PETER LARNDORFER (Wien) wiederum reflektierte die Externalisierung des Nationalsozialismus im Allgemeinen und des Judenmordes im Besonderen in der österreichischen Gedächtniskultur. Als Fallbeispiel diente ihm die Länderausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz, mit der sich Österreich seit 1978 als „Erstes Opfer des Nationalsozialismus“ präsentiert (die Ausstellung wird derzeit überarbeitet). Larndorfer beschrieb in seinem Vortrag, unter welchen politisch-ideologischen Bedingungen das österreichische Opfernarrativ entstehen und überdauern konnte, bis es mit der ‚Waldheim-Affäre’ 1986 endgültig ad absurdum geführt wurde.

 

An diese Fallbeispiele schloss CORNELIA SIEBECK (Berlin) mit einer theoretischen Reflexion des gedächtnispolitischen Feldes an. Sie plädierte dafür, den verbreiteten Begriff eines vermeintlich repräsentativen ‚kulturellen Gedächtnisses’ ganzer Nationen oder ‚Ethnien’ durch eine hegemonietheoretische Perspektive in Anlehnung an Gramsci und Laclau zu ersetzen. Das öffentliche Gedächtnis erscheine dann nicht mehr als Repräsentation eines konsensualen Kollektivsubjekts, sondern realistischerweise als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Kämpfe um ‚kulturelle Hegemonie’. Siebeck wies darauf hin, dass gerade Gedenkstätten dazu tendierten, die eigene historisch-soziale Bedingtheit durch ihre physisch erfahrbare ‚Qualität der Tatsächlichkeit’ (J. Rüsen) zu verschleiern.

 

Der letzte Vortrag würdigte mit Ruth Klüger eine Überlebende und Zeitgenossin, die sich wiederholt kritisch über die herrschende Gedächtniskultur an die nationalsozialistischen Massenverbrechen geäußert hat. DENNIS BOCK (Hamburg) fragte in seinem Referat aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nach der rhetorischen Funktion der von Klüger oft polemisch vorgetragenen Kritik an Gedenkstätten, Museen und „KZ-Kitsch“. Er deutete Klügers Interventionen als bewusst eingesetzte Strategie, zu polarisieren und provozieren, um die Diskussion über das warum, was und wie der öffentlichen Erinnerung an die NS-Verbrechen lebendig zu halten, anstatt sie in vermeintlichen Selbstverständlichkeiten erstarren zu lassen.

 

Man kann guten Gewissens behaupten, dass dieses Anliegen Klügers auch das der Workshopteilnehmer/-innen war. Noch jenseits der eigentlichen Tagungszeiten wurde der lebhafte und oft kontroverse Austausch fortgesetzt. Diskussionsstoff gab es genug: Man sprach über die Vorträge des Tages, informierte sich gegenseitig über gedächtnispolitische Trends in den jeweiligen Herkunftsländern und reflektierte die mehrstündigen Besuche in Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau, die von Mitarbeitern der Gedenkstätte kompetent begleitet worden waren.

 

Im Zuge einer gemeinsamen Abschlussdiskussion wurde neben berechtigtem Lob für die Organisator/-innen Imke Hansen, Enrico Heitzer und Katarzyna Nowak auch so manche (Selbst-)Kritik laut: Wie schon auf früheren Workshops monierten einige Teilnehmer/-innen, dass sich die Inhalte der Vorträge zunehmend in Richtung Gedächtniskultur/Repräsentation verlagerten, während historische Forschung zu den Lagern selbst in den Hintergrund trete. Nicht nur von nichtdeutschen Teilnehmer/-innen wurden außerdem Dominanz und normative ‚Selbstverständlichkeit’ eines deutschen Aufarbeitungs- und Gedenkstättendiskurses in den gemeinsamen Diskussionen hinterfragt. Die deutsche Diskurshegemonie wurde dabei nicht zuletzt darauf zurückgeführt, dass Deutsch vorherrschende Tagungssprache war (die nichtdeutschsprachigen Teilnehmer/-innen wurden von Imke Hansen mit einer viel gelobten Simultanübersetzung bedacht). Insgesamt überwog jedoch allgemeine Zufriedenheit vor allem mit der informellen, offenen und kontaktfreudigen Atmosphäre des Workshops.

 

Der ‚17. Workshop zu Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager’ wird voraussichtlich im Oktober 2011 in der Gedenkstätte Mauthausen bei Linz stattfinden. Ein entsprechender Call for Paper wird voraussichtlich im Januar veröffentlicht.

 

Konferenzübersicht:

 

Panel I: Das Lager: Ort des Terrors

 

Swetlana Burmistr (Berlin): Transnistrien: Orte des Terrors und Erinnerungsräume

 

Mira Jowanović-Radković (Zürich): Konzentrationslager auf der kroatischen Insel Pag 1941

 

Agnieszka Nikliborc (Kraków): To be a woman in Auschwitz-Birkenau: Representations in the memoirs of female Polish political and Polish-Jewish prisoners

 

Angelika Benz (Berlin): Das SS-Ausbildungslager Trawniki

 

Konrad Manseer (Wien): Das KZ Gusen und die österreichische Nachkriegsjustiz

 

Panel II: Ereignis und Erinnerung

 

Frank Wiedemann (Hamburg): Erinnerung und traumatische Folgen nach Konzentrationslagererfahrung

 

Katja Baumgärtner (Berlin): Geschlechterspezifische Räume. Ravensbrück im Film

 

Melanie Dejnega (Wien): Von ‚Opfern’ und anderen Überlebenden. Nationale Erinnerung und ihre Bedeutung für Über-Lebensgeschichten

 

Noah Benninga (Jerusalem): Ethical imperatives and the problematic of reconstructionist historical work on KZ Auschwitz 1940-1945

 

Mathias Renz/Sebastian Bode (Gießen): Die Visualisierung des Holocaust in aktuellen europäischen analogen und digitalen Geschichtskarten

 

Panel III: Gedächtnis – Europäisierung, Internationalisierung, Universalisierung

 

Anna Sommer (Kraków): Political Influences on the Memory of Auschwitz in the PRL and the USA

 

Peter Hallama (München): Hatikvah, tschechische Nationalhymne oder sowjetische Partisanenlieder? Das ‚Theresienstädter Familienlager’ in Auschwitz-Birkenau und die Metamorphosen der tschechoslowakischen Erinnerungskultur

 

Peter Larndorfer (Wien): Auschwitz im ‚österreichischen Gedächtnis’

 

Cornelia Siebeck (Berlin): Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit ‚demokratischer’ NS-Gedenkstätten

 

Dennis Bock (Hamburg): „Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit“: Ruth Klügers Kritik an KZ-Gedenkstätten und Museen

 

Zitation

Tagungsbericht: Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager, 21.05.2010 – 25.05.2010 Birkenau, in: H-Soz-Kult, 21.10.2010, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3326>.


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